JAHRESBERICHT 2020

Sozialpädagogik

Jens Konejung

Abteilungsleiter

Mit dem Eintritt beginnt die erste der drei Phasen der Behandlung in der Modellstation SOMOSA. Für uns entscheidend war hier der Start der Beziehungsarbeit. Sven brauchte eine enge Begleitung durch unsere Mitarbeitenden, zu denen er Vertrauen aufbauen konnte. Da es bei Sven im Vorfeld zu mehreren Abbrüchen von Helfersystemen kam, war dies eine grosse Herausforderung. Sven testete unsere Tragfähigkeit immer wieder durch impulsive Durchbrüche und verbale Entgleisungen. Eine der grössten Schwierigkeiten zu Beginn war es, die Auslöser von Konflikten zu erkennen. Sven reagierte meistens mit Wut auf alle möglichen Situationen. Um ihm gerecht zu werden, brauchte es zum einen selbstverständlich Klarheit, was Grenzen und Normen im Zusammenleben angeht. Gleichzeitig ist auch eine vorurteilslose, empathische Grundhaltung ihm gegenüber erforderlich, was das Erfassen seiner Persönlichkeit als Ganzes betrifft. Sven brauchte kontinuierliche, bedingungslos positive Zuwendung. Er musste uns und unsere Art der pädagogischen Arbeit kennenlernen und wir waren bestrebt, eine tragfähige Beziehung zu Sven aufzubauen. Sven wurde in der ersten Phase bei den alltäglichen Anforderungen (bspw. Gruppenämtli oder Zimmerordnung) sehr eng begleitet.

Gesellschaftskonforme Konfliktlösungsstrategien waren bei Sven zunächst kaum vorhanden. Stressabbau erfolgte in der Anfangsphase mehrheitlich durch Cannabiskonsum.  Sehr schnell erkannten wir aber eine grosse Ressource: Sven war fähig zu streiten. Sven wurde zwar jeweils schnell laut und entwertend, aber auf klare Begrenzungen konnte er dann gut reagieren und stellte sich dem Konflikt. Ihm war viel daran gelegen, Konflikte zu klären. Für den Beziehungsaufbau waren diese Streitsituationen essentiell.

Sven war im Verlauf der Behandlung immer besser in der Lage, eigene Emotionen einzuordnen und schaffte es vermehrt, diese zu benennen und so Unterstützung einzuholen. Eine deutliche Trennung zwischen Problemverhalten und seiner Person war essentiell.

Sven zeigte zahlreiche ‘lobenswerte’ und positive Verhaltensweisen. Es galt, diese hervorzuheben, damit er dann in der Lage war, auch die negativen Verhaltensweisen bearbeitbar zu machen.

Sven konnte nach einem guten Jahr in der SOMOSA in eine geschützte Ausbildung übertreten. Bei seiner Abschlussrede, die er vor den anwesenden Mitarbeitern und Klienten beider Wohngruppen hielt, äusserte Sven, dass er viel in der SOMOSA erreicht habe und appellierte an die anderen Klienten, sich auf das Programm einzulassen. «Auch wenn die Mitarbeiter teilweise nervig waren, kann ich abschliessend nichts Negatives sagen. Mir hat es was gebracht.»

Arbeitsagogik

Stefan Lienhard

Sozialpädagoge

«Mach dich auf der Treppe mal nicht so breit!» Das war mein erster Kontakt mit Sven. Gehört habe ich ihn schon weit vorher. Laut und immer unter Strom. Sven, ein 16-jähriger Jugendlicher, der, wie so oft, nichts von uns wollte und bei Eintritt schon alles wusste. Und so begann unsere Arbeit auch. Diskussionen und Entwertungen gab es fast täglich. Nicht untypisch, da Jugendliche so meist bewusst oder unbewusst die Tragfähigkeit der Beziehung testen. Sven lehnte kategorisch alles ab, was in irgendeiner Form mit institutioneller Pädagogik zu tun hatte. Auch dieses Verhalten von Jugendlichen mit langen Odysseen durch verschiedene Heime und Institutionen ist uns bestens bekannt. Was die Jugendlichen oft nicht kennen ist, dass man ihnen immer wieder die Hand reicht und nach jedem Konflikt wieder neu beginnt. Und das war der Schlüssel zur ersten Zusammenarbeit. Der Jugendliche hatte eine grosse Leidenschaft: Lego. Und so fing die Arbeit an. Aus kleinen Legoautos wurden grosse. Aus freiem Spielen wurden Aufträge. Aus zwei gemischten Lego Kisten wurde ein Lego Ordnungssystem. Aus Sven wurde ein Jugendlicher, der langsam anfing, Selbstwirksamkeit zu erfahren und zu begreifen, dass er Fähigkeiten hat, mit welchen er in der Lage ist, etwas zu erschaffen und zu erreichen. Sven fügte sich immer besser ein und wurde ein wichtiger Teil der Gruppe. Auch mit seinen Stärken und Schwächen und seinen unglaublich guten und grauenhaft schlechten Tagen. Nach und nach begannen wir die beruflichen Interessen zu erkunden. Berufsinteressenstests, Besuche im BIZ und die ersten Schnuppertage und Schnupperwochen. Das Resultat war ein Austritt in eine EFZ-Ausbildung in einer Ausbildungsinstitution. Und das auf Wunsch des Jugendlichen, der noch wenige Monate zuvor versichert hatte, dass er nie wieder in eine pädagogische Institution wechseln wird. Dass die essentiellen Fortschritte sein eigener Verdienst waren, sollte man an dieser Stelle erwähnen.

«Danke für Alles», sagte er in einem unserer letzten Gespräche.

Psychotherapie

Patrick Leemann

Psychotherapeut

Der Einstieg in die therapeutische Arbeit stellte sich als äusserst herausfordernd dar. Bisherige negative (bzw. erfolglose) Therapieerfahrungen und Schwierigkeiten, sich auf ein neues Setting einzulassen, führten bei Sven zu enormen Widerständen das therapeutische Angebot anzunehmen. An zwei Tagen pro Woche versuchte ich, Sven für die therapeutischen Gespräche zu gewinnen, zwei Mal pro Woche wurde ich von ihm weggeschickt und bekam zu hören, dass Therapie blöd sei und Therapeuten blöd seien und «über Probleme labern» eh nichts bringe. Woche für Woche holte ich mir also meine Abfuhren ab und musste teilweise der Versuchung widerstehen, die Versuche, mit Sven in Kontakt zu kommen, einzustellen und zu denken, dass er mir doch den sprichwörtlichen Buckel runterrutschen soll, wenn er partout nicht mitmachen will. Meine Hartnäckigkeit hat sich jedoch letztlich ausgezahlt und als Sven sich nach einigen Monaten an die SOMOSA gewöhnt hatte, meinte er bei einem weiteren Versuch, ihn zu einem Gespräch zu motivieren, schliesslich «Ja, heute komme ich mal mit». Die Überraschung war gross, die Freude noch grösser und nach einem langwierigen und harzigen Start konnte schrittweise eine enge und tragfähige Beziehung aufgebaut werden.

Zunächst weigerte sich Sven, über familiäre Themen oder belastende Erlebnisse aus der Vergangenheit zu sprechen und es ging mehr darum, aktuelle Schwierigkeiten zu reflektieren, beispielsweise, welcher Arbeitsagoge oder welche Sozialpädagogin aktuell gerade am meisten nerve. Mehr und mehr liessen sich aus diesen Schilderungen gewisse Muster ableiten und daraus auch Strategien, wie man am besten mit ‘nervendem’ Betreuungspersonal umgeht. Die enge Zusammenarbeit zwischen den Bereichen der SOMOSA erlaubte es, auch mit den Bezugspersonen der anderen Berufsgruppen gewisse Erklärungen für Svens Verhaltensweisen auszutauschen, so dass es allen zunehmend besser gelang mit Svens nervendem und manchmal aggressivem Verhalten umzugehen.

Je länger die Therapie dauerte, desto mehr konnte Sven sich öffnen und frühere Schwierigkeiten und negative Erlebnisse einbringen. Dies half ihm dabei, eigene Muster besser zu verstehen und erarbeitete Strategien auch tatsächlich umzusetzen. So nahmen die Wutausbrüche deutlich ab und der eine oder andere Joint am Wochenende wurde eher zum Genuss und war nicht mehr das dringend notwendige Mittel zur Reduktion angestauter Aggressionen.

Svens Zustand hat sich während seiner Behandlung in der SOMOSA deutlich stabilisiert. Er konnte wichtige Entwicklungsschritte nachholen und sich mit persönlichen Themen auseinandersetzen. Im Rahmen einer tragfähigen Anschlusslösung wurde eine gute Basis für eine weitere positive Entwicklung gelegt.

Musiktherapie

Verena Barbera

Sozialpädagogin und Musiktherapeutin

Mit Musiktherapie durch Cannabis und Krisen:
Sven besucht ca. 10 Monate die Musiktherapie im Einzelsetting. Sven präsentierte sich als Jugendlicher, der gut gelaunt zur Therapie kam, bei den anderen Klienten der Institution eher beliebt und zu den Mitarbeitern sehr freundlich war. Er sprach vom Leben, als sei er 20 Jahre älter und erzählte, wie er alles im Griff habe. Er wollte mir erklären, warum die Welt so zerfallen und chaotisch ist. Ich hörte ihm gespannt zu, aber sobald es um seine Person ging, wich er aus. Auf einmal sass da ein Jugendlicher vor mir, dessen Leben alles andere als «normal» war. Der Frust, der mit seiner Geschichte zu tun hatte, füllte nach und nach den Raum. Ich lud Sven ein, das Gefühl, den Frust, auf einem Instrument in diesem Raum auszudrücken. Er wählte ein Instrument aus, das wir gemeinsam spielen konnten. Wir kamen in einen Dialog, der gefüllt war mit starken Rhythmen, lauten und intensiven Trommel-Schlägen. Wir übertönten uns gegenseitig, spielten immer lauter und schneller und plötzlich – Stille. Es war ruhig, die Spannung, die zuvor so gross wurde, hatte sich aufgelöst. Sven lehnte sich zurück und lächelte. Es braucht keine Worte für das Geschehene.

Die nächsten Sitzungen folgten, mit Monaten voller Krisen, ein ständiges Auf und Ab. Sven wirkte nicht mehr wie derjenige, der einem die Welt erklären möchte. Es war eher umgekehrt – Eine Suche nach Erklärungen, der Versuch, die Welt zusammenhalten. Seine Welt, die immer mehr drohte, auseinanderzubrechen. Wir nahmen Songs auf. Wir suchten Hip Hop Beats, die so «dunkel» wie möglich klangen, laut und dröhnend waren. Er rappte im Freeystle und liess seine Gedanken heraus.

Diese Art von Musik, basslastig, dröhnend und laut, bezeichnet man als «ergotrope Musik». Sie erhöht den Puls, der Atem wird schneller und die Pupillen weiten sich. Der Körper kann sogar mit «Gänsehaut» reagieren. Man erlebt einen «Kick», ist begeistert und voller Energie.

Die Texte von Sven waren gefüllt mit Drohungen gegenüber anderen Leuten, er sprach von seinen «Gangs» die ihn beschützten und seinem engen Bezug zu seiner Familie. Gewalt, Drogen und Frust trafen sich in Musik und Text. Dies hatte zur Folge, dass selten ein Lied wirklich komplett fertig aufgenommen wurde, weil nie eins gut genug war. «Ich bin nicht gut genug», «Ich kann es besser». Diese und ähnliche Sätze sind häufig gefallen, sie zeigten sich auch in seinem Verhalten und in seiner Geschichte. Er wollte besser sein als die Sätze, die ihm gesagt wurden. Er wollte anderen helfen und stellte sich selbst zurück. Dies hatte zur Folge, dass er sich nicht genügte und dies zeigte sich sehr deutlich in der Musiktherapie. Und auf einmal wollte er einen Song zeigen, einen Song, der anders war als die Gangster-Raps. Es ist ein Song, der ihm aus dem Herzen sprach. Wir hörten ihn in Dauerschleife und es war sichtbar, wie sein Körper und seine inneren Anspannungen für den Moment zur Ruhe kamen. «Es ist die Melodie», sagte er. Die Melodie, die weiche Übergänge zwischen den einzelnen Tönen hatte und ein Instrument, das diese spielte. Bei solch einer Wirkung von Musik spricht man von tropotropher Musik, die auf den Parasympathikus wirkt und somit den körpereigenen Organismus entschleunigt. Dabei sinkt der Blutdruck und der Puls und die Atemfrequenz verringert sich.

Die Musiktherapie war für Sven eine Möglichkeit, dem Angenehmen im Leben zu begegnen und dem inneren Frust einen sicheren Rahmen Raum zu geben.

Kunsttherapie

Manuel Boesch

Sozialpädagoge und Kunsttherapeut

Im Monat Juni 2020 nahm Sven zusammen mit drei anderen Klienten der Einrichtung freiwillig an einem Kunstprojekt teil. Dieses Projekt erstreckte sich über 8 halbtägige Sitzungen und bestand darin, ein 4 x 2 m grosses Fresko mit Sprühfarbe zu entwerfen und zu realisieren. Sven hatte eine Menge Spass, mit diesem Material und Techniken zu arbeiten. Nach dieser Erfahrung bat mich Sven, weiterhin mit Sprühfarbe arbeiten zu dürfen und eine Stunde pro Woche in die Kunsttherapie zu kommen. Sven arbeitete an 3D-Illusionsbildern. Es handelte sich dabei um aufwendige Kreationen, die mit Aerosolfarbe in Kombination mit Acrylfarbe hergestellt wurden. Er nahm sich Zeit, um seine Linien zu verfeinern und die Formen zu verwirklichen. Bei der Arbeit war er meist sehr vertieft und konzentriert. Er war oft überrascht und stolz auf seine eigene künstlerische Leistung.

Nach dieser ausschliesslich kreativen Phase, begann Sven sich vertrauensvoll mit einigen aktuellen Parametern seines eigenen Lebens auseinanderzusetzen. Unterschiedliche Themen, wie Fragen nach dem Sinn des Lebens und seinem Verhältnis zur Familie, wurden thematisiert und gestalterisch umgesetzt. Sein Lieblingsthema war jedoch seine Peergroup und die damit verbundenen illegalen Aktivitäten. Sven sprach besonders gerne über die unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Konsum und dem Weiterverkauf von Cannabis. Es war ein Diskussionsthema, das ihn stolz machte und ihm einen Anschein von Macht innerhalb seiner Peergruppe gab. Gestalterisch arbeitete Sven mit Filzstiften, Plastilin und Gouache Farben. Die Entwicklung seiner künstlerischen Arbeit war präzise. Die Symbolik seiner Formen, in Bezug auf die behandelten Themen, waren für ihn von grosser Bedeutung. Er zeigte sich danach offen für die Introspektion und Diskussionen über seine realisierten künstlerischen Objekte.