JAHRESBERICHT 2024

«WO IST MEIN PLATZ?»

Drei Mitarbeitende erzählen hier über ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit Katja, eine unserer Bewohnerinnen, die eigentlich anders heisst.

Sozialpädagogik

Anna Marxer

Sozialpädagogin:
Ich gehöre hier nicht hin!

Katja trat mit einer klaren Mission in die Modellstation SOMOSA ein: Sie wollte beweisen, dass sie hier nicht hingehört. Aber was passiert, wenn Widerstand sich in Selbstbestimmung verwandelt? Wie Vertrauen wächst und sich neue Wege eröffnen, zeigt Katjas beeindruckende Entwicklung.

Der Eintritt in die Modellstation Somosa gestaltete sich für Katja als sehr grosse persönliche Herausforderung. Sie trat mit der Überzeugung an, dass sie hier nicht hingehört. Die Entscheidung, sie hier unterzubringen, wertete sie als grossen Fehler. Ihr erster Tag war von Protest geprägt – sie betrat die Einrichtung nur unter polizeilicher Androhung und mit der klaren Haltung, so schnell wie möglich wieder zugehen. Ihr Blick war abgewandt, Körperhaltung und Worte machten deutlich, dass sie entschlossen war, sich gegen eine Situation, die Erwachsene ihr aufgedrängt hätten, auflehnen würde.

Durch zahlreiche Ausnahmen der Regeln, gelang es uns die Klientin zu überzeugen an den ersten Tagen teilzunehmen. Dabei beschränkte sie sich auf das Nötigste, wie sie selbst formulierte nur um zu beweisen, dass wir nicht nötig sind. Mit der Zeit wurde die Umgebung vertrauter, die Routinen weniger bedrohlich. Durch intensive und lange Gespräche entwickelte die Klientin eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Bezugspersonen.

Langsam wich ihre Wut einer vorsichtigen Akzeptanz, Katja konnte ihren Widerstand und ihr schüchterne Zurückhaltung Schritt für Schritt ablegen. Sie begann ihr Zimmer ihr Zimmer nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, ein erster sichtbarer Schritt. Die grösse Veränderung zeigte sich jedoch in ihrem sozialen Verhalten. Katja, die sich lange als Einzelkämpferin präsentiert hatte, begann Kontakte zu knüpfen. Erst langsam, dann immer mutiger suchte sie den Austausch mit anderen.

Während ihrer Zeit in der Modellstation Somosa erzielte die Klientin mehrere persönliche Erfolge, auf die sie aber auch wir sehr stolz sind – brauchte es doch zwischenzeitliche Diskussionen und darin war sie Profi, um ihr die Sinnhaftigkeit dieser Erfolge näher zu bringen. Nach neun Monaten verliess Katja die Modellstation Somosa, gar schon widerwillig, mit einem prall gefüllten Rucksack eigener Errungenschaften und trat in eine passende Anschlusslösung über.

Arbeitsagogik

Anja Meile

Arbeitsagogin:
Mein Platz. Mein Stift. Meine Regeln.

Katja sprach wenig, aber ihre Zeichnungen erzählten ihren Entwicklungsprozess. Anfangs nur in Bleistift, zurückhaltend und präzise. Doch mit der Zeit wurde ihr Zeichnungsstil mutiger – genau so wie sie selbst. Wie ein Bild, das langsam zum Leben erwacht, fand sie ihren eigenen Platz

«Oh, kleine Grumpy Cat» war mein erster Gedanke als ich Katja das erste Mal sah. Die Kapuze hatte sie tief ins Gesicht gezogen und schaute darunter hervor. Sie erinnerte mich an eine misstrauische Katze, welche stets auf der Hut war und wenn man ihr zu nah kommen würde, fauchen oder die Flucht ergreifen würde. Zu meiner Verwunderung kam sie bereits an ihrem ersten Tag, ausgerüstet mit Malutensilien, ins AHA (Arbeitshinführende Agogik) und setzte sich scheu an ihren Platz. Auf das Material angesprochen, äusserte Katja, sie zeichne ausschliesslich mit ihren Bleistiften und auf ihren karierten Block. Mein Versuch ihr unser breites Angebot an unterschiedlichen Materialien und Möglichkeiten schmackhaft zu machen, blockte sie gleich ab. Sie wollte zeichnen, und zwar so, wie sie es schon immer tat.

Tagelang zeichnete Katja Bleistiftbilder in ihrem persönlichen Stil, still und zurückgezogen an ihrem Platz. Katja zeichnete schnell, präzise und zauberte innerhalb kürzester Zeit Resultate, über die wir nur staunen konnten. In kleinen Schritten gelang es ihr immer besser, ihren persönlichen Platz zu verlassen und am grossen Gemeinschaftstisch zu zeichnen. Sie hörte den Gesprächen der anderen zu, schmunzelte heimlich für sich, aber beteiligte sich nicht.

Die Tage vergingen und Katja arbeitete fleissig an ihren Bildern. Sie liess sich durch kleine Neckereien und Spässe abholen, sie wurde mutiger und begann sich ebenfalls zu äussern. Sie erzählte zunehmend mehr von sich und integrierte sich in die Gruppe. Die «kleine Grumpy Cat» verwandelte sich in eine aufgeweckte Katze, die neugierig und spielerisch auf Entdeckungstour ging. Sie begann mit neuen Materialien zu experimentieren. Die anfänglichen Bleistiftzeichnungen wichen als erstes und wurden durch schwarzen Filzstift ersetzt, dann wurden die Bilder bunter und bunter. Ihr Arbeitsplatz, der zu Beginn eher trist und dunkel wirkte, glich nun mehr einem Sammelsurium an farbigen Kunstwerken.

So wie Katja ihren Zeichnungen mehr Farbe einhauchte, so blühte sie selbst auch immer mehr auf. Sie entwickelte sich zu einer aufgeweckten, humorvollen Persönlichkeit, die es genoss Spässchen zu machen. Um Katja auf die Zukunft vorzubereiten, strebten wir einen internen Wechsel in eine Folgewerkstätte an. In dieser Zeit zeigte sich die scheue widerständige «Grumpy Cat» wieder und sie benötige viel Unterstützung für diesen Wechsel, wollte gehört werden und an Entscheidungen partizipieren. Wir erarbeiteten zusammen unter Einhaltung ihrer Bedürfnisse einen Stufenplan für den Übertritt, der Übergang gelang und Katja konnte sich sehr schnell in die neue Gruppe integrieren. Katja war sichtlich stolz über dieses Erfolgserlebnis. Bei meinen Kurzbesuchen erzählte sie begeistert, woran sie arbeitete und was sie alles erlebe.

Während ihres Aufenthalts in der Modellstation SOMOSA hat Katja eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Schwarz wich der Farbenvielfalt und Schüchternheit neuer Selbstsicherheit. Für mich als Bezugsperson war es schön zu verfolgen wie Katja Vertrauen fasste, sich aus ihrer Komfortzone traute und Neues ausprobierte. Es war wichtig ihr ausreichend Zeit zu geben, um Sicherheit zu gewinnen - mit dieser gewonnenen Selbstsicherheit gelang es Katja zuversichtlich ihren Weg zu gehen und Fuss zu fassen in einer Anschlusslösung.

Psychologie

Patricia Müller

Bereichsleiterin und Psychologin:
Warum soll ich reden, wenn mich sowieso niemand versteht?

Ein Therapieprozess kann vieles sein: herausfordernd, überraschend und manchmal auch humorvoll – oft alles zugleich. Es ist wie ein Puzzle mit vielen Teilen, welches erst nach und nach ein Gesamtbild ergibt. Die Arbeit mit Katja zeigt, wie individuell Therapie verläuft und wie wichtig es ist, Raum für Emotionen, Kreativität und Entwicklung zu schaffen. Zwischen Widerstand und neuen Perspektiven, zwischen Rückzug und Offenheit entstanden wertvolle Einsichten – und damit auch neue Möglichkeiten für Veränderung.

Dieses Jahr durften wir Katja, eine Jugendliche mit wachem Verstand, kreativer Ader und einer gesunden Portion Skepsis gegenüber neuen Situationen begleiten. Warum sollte sie sich öffnen, wenn sie doch keine Kontrolle über ihre Situation hatte, nicht gehört, nicht verstanden wird? Ihre Fragen waren nicht nur Trotz, sondern Ausdruck eines grossen Bedürfnisses nach Verständnis und Selbstbestimmung. Der Therapieprozess war geprägt von Fragen, Zweifeln, kleinen Fortschritten – und grossen Erkenntnissen.

Die ersten Wochen waren für Katja sehr herausfordernd. Der Schritt in ein unbekanntes Umfeld, das Gefühl, nicht selbst über den eigenen Weg entscheiden zu können – all das löste Frustration und Verunsicherung aus. Und schnell war klar: Mir gegenüber sitzt eine junge Person, die sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengibt.

Mit viel Geduld und Fingerspitzengefühl konnte allmählich eine Vertrauensbasis aufgebaut werden. Anfangs waren die Gespräche kurz und zurückhaltend, doch mit der Zeit fanden sich Wege, um Zugang zu Gedanken und Gefühlen zu bekommen – sei es durch Humor, durch Zeichnungen oder durch Diskussionen über Lieblingsbücher und Filme, von denen ich viele nicht kannte.

Ein zentrales Thema war die Frage nach Zugehörigkeit: Wo ist mein Platz? Wie viel Kontrolle habe ich über meine Zukunft? Diese Fragen begleiteten Katja und mich während des gesamten Therapieprozesses, genauso wie die Auseinandersetzung mit individuellen Stärken und Herausforderungen. Besonders imponiert hat der enorme Ideenreichtum von Katja sowie die Fähigkeit, sich mit Humor in komplexe Geschichten hineinzudenken – eine wertvolle Ressource, um innere Prozesse zu reflektieren.

Struktur und Klarheit erwiesen sich als wichtige Anker. Gleichzeitig wurde deutlich: Routinen müssen nicht als Zwang empfunden werden, sondern dienen als Möglichkeit, Sicherheit und Selbstbestimmung in Einklang zu bringen. Mit der Zeit rückte auch die Frage nach individuellen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmustern stärker in den Fokus. Sensitivität für Reize, Schwierigkeiten mit Veränderungen und das intensive Eintauchen in Interessen machten deutlich, dass ein individueller Förderansatz unabdingbar war. Die Therapie diente nicht nur der Reflexion, sondern auch der Suche nach Strategien für den Alltag.

Nach und nach wuchs das Bewusstsein von Katja für eigene Bedürfnisse und Grenzen. Trotz aller Skepsis entstanden Momente der Offenheit, Augenblicke, in denen Neugier und Mut spürbar wurden. Kleine Erfolge, aber auch neue Sichtweisen auf eine Situation oder das klare Formulieren eigener Anliegen erwiesen sich als bedeutende Meilensteine.

Die Monate mit Kaja waren eine Reise voller Überraschungen. Zwischen Widerstand und Akzeptanz, zwischen kritischen Fragen und neuen Einsichten entstand eine Entwicklung, die zeigt: Veränderung braucht Zeit, aber sie ist möglich, wenn sie im eigenen Tempo stattfinden darf.